Lars David Kellner

Stefan König: "Max Regers geistliche Lieder für Orgel/Harmonium/Klavier"

October 31, 2023

Textbeitrag zu Lars David Kellners Album mit Idunnu Münch

Die Zwei Geistlichen Lieder Op. 105 sind ein Gelegenheitswerk Max Regers im besten Sinne. Das erste von ihnen, die Vertonung von Novalis’ berühmtem Marienlied Ich sehe dich in tausend Bildern, komponierte Reger im August 1907 während seines Sommerurlaubs, den er mit seiner Frau Elsa und Adoptivtochter Christa in Kolberg an der Ostsee (heute: Kolobrzeg) verbrachte. Der dort ansässige Kurkapellmeister Walter Eichberger ergriff die Chance, den berühmten Gast nach einem Werk zu fragen, das seine Frau Martha, eine Konzertsängerin, beim nächsten Kirchenkonzert singen könnte. »Mal sehen«, antwortete Reger, und lieferte dem verblüfften Kapellmeister noch am selben Nachmittag das Manuskript des Novalis-Liedes. Bei der Uraufführung des Liedes am 27. August im Kolberger Dom begleitete Reger, der als konzertierender Organist sonst kaum auftrat, selbst an der Sauer-Orgel. Das Publikum kam bei dieser Gelegenheit auch in den Genuss, den Komponisten am Ende des Abends über ein Passacaglia-Thema improvisieren zu hören. Auf dem Programm des Kolberger Konzertes stand auch das geistliche Lied Meine Seele ist still zu Gott von Robert Emmerich, das Reger zu einer eigenen Vertonung über dieselben Verse aus Psalm 62 anregte. Noch im September komponierte er auch diesen zweiten Gesang des späteren Opus 105; auf die Veröffentlichung musste Reger jedoch noch bis Juni 1908 warten. Das Werk erschien dabei nicht bei seinen Hauptverlegern Lauterbach & Kuhn, mit denen er in juristischen Auseinandersetzungen stand, sondern bei F. E. C. Leuckart.

Mit den beiden deklamatorischen und schlicht gehaltenen Liedern, die zu den aufgewühlten, harmonisch und melodisch komplexen Klavierliedern der zurückliegenden Münchner Zeit einen bemerkenswerten Kontrast bilden, kommt Regers Liedschaffen für einige Jahre zur Ruhe. Fühlbar tritt er hier in den schöpferischen Dialog mit den geistlichen Liedern aus dem Spanischen Liederbuch von Hugo Wolf, den er sehr verehrte und mit dessen verkannter Künstlerpersönlichkeit er sich stets identifizierte.


Mit den Zwölf Geistlichen Liedern Op. 137 wandte sich Reger dem begleiteten Solo-Lied erneut zu und reagierte auf besonders introvertierte Weise auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Lieder entstanden im August 1914 gemeinsam mit den Acht Geistlichen Gesängen Op. 138 für gemischten Chor, für die der Komponist auch auf dieselbe Textquelle zurückgriff: die von Will Vesper im selben Jahr zusammengestellte Anthologie Der deutsche Psalter – Ein Jahrtausend geistlicher Dichtung. Gegenüber Henri Hinrichsen, dem Eigentümer des Verlages C. F. Peters, bezeichnete Reger sein neues Werk explizit als »Hausmusik«, gab jedoch zu verstehen: »selbstredend lassen sich alle 12 Lieder als Sologesänge bei Kirchenconcerten benutzen.« Wie im Falle des Opus 105 war es Reger selbst, der Teile aus seinem neuen Werk an der Orgel erstmals aufführte. Bei den im September 1914 in Hildburghausen und Meiningen gegebenen zwei Benefizkonzerten zugunsten der von ihm drei Jahre lang geleiteten Meininger Hofkapelle, die in Kriegszeiten aufgelöst werden musste, stand ihm die Altistin Elisabeth Angelroth, Tochter eines Meininger Regierungsrats, zur Seite. Mit ihr musizierte er insgesamt vier Lieder der noch nicht publizierten Sammlung, darunter das Grablied, aus dem Manuskript. Im Oktober konnte er dann seine Belegexemplare des Erstdrucks in Empfang nehmen.

Mit den inwendigen, klanglich zurückgenommenen geistlichen Liedern, die von Leben und Tod handeln, traf Reger den Andachtston der tragischen Zeit. Die Startauflage von 500 Exemplaren war bald vergriffen, 1916 und 1917 kam es zu weiteren Auflagen. Ein Vorbild für sein Opus 137 fand Reger dabei in Schemellis Gesangbuch (Leipzig, 1736), an dem einst auch Johann Sebastian Bach mitgearbeitet hatte und aus dem 1913 25 Geistliche Lieder in praktischer Ausgabe (von Hermann Roth) erschienen waren.

Aus Vespers Psalter wählte Reger bevorzugt Texte aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, so O Herre Gott, nimm du von mir (Nr. 5) von Nikolaus von der Flüe (1417–1487) oder das anonym gedichtete Christ, deines Geistes Süßigkeit, dessen erste Strophe auf eine Basler Handschrift aus dem 14. Jahrhundert zurückgeht. Das Grablied, derdritte Gesang der hier auf der CD präsentierten Auswahl aus Opus 137, stammt hingegen vom deutschnationalen Vormärz-Dichter Ernst Moritz Arndt und ist auf das Jahr 1818 datiert.


Reger gibt in beiden geistlichen Lied-Opera das Harmonium als eine vollgültige Besetzungsalternative zur Orgel bzw. dem Klavier an. Die Instrumentalstimme ist daher sowohl in Opus 105 als auch in Opus 137 manualiter geschrieben; spezifische Angaben für das Harmonium macht Reger freilich nicht.