Lars David Kellner

Moritz Chelius interviewt Lars David Kellner: »Wie im Cockpit« (IMRG, Mitteilungen 44, 2023)

November 30, 2023

(Zum online Artikel)

Lars David Kellner über Harmoniums, Legato und ein 1.300 Seiten langes Werk

MC: Sie bezeichnen sich selbst als „Tastenkünstler“. Welche Tasteninstrumente haben Sie denn bei sich zu Hause?

LDK: Bei mir stehen ein Klavier, ein Harmonium, ein Cembalo, eine Celesta, ein Tastenglockenspiel und ein Toy Piano. Also das Haus ist gut voll! Das Toy Piano macht mir am wenigsten Sorgen, weil ich es einfach unter den Arm nehmen kann.

Wenn Sie nach Hause kommen, schreien die Instrumente doch alle „Spiel mich!“, oder?

So ist es! Und ich antworte verzweifelt: Ich habe zu wenig Zeit! Nein, ernsthaft: Es ist ein geradezu paradiesischer Zustand, im Wohnzimmer von einem Instrument zum nächsten zu wandeln. Ich bin ja gelernter Konzertpianist, aber insofern vielseitiger geworden, weil ich jetzt auch noch das Harmonium und die Celesta mit in meine Konzertprogramme einbeziehe.

In den letzten Jahren haben Sie sich viel mit dem Harmonium beschäftigt und unter anderem auf sieben Alben das Harmonium-Gesamtwerk von Franz Liszt und Max Reger eingespielt. Wie sind Sie auf das Instrument gekommen?

Ich hatte mich im Rahmen meines letzten Klavieralbums mit dem Spätwerk von Liszt auseinandergesetzt. Und da waren einige Stücke dabei, die laut Komponist für Klavier oder eben Harmonium instrumentiert waren. Ich habe mich dann gefragt, wie das auf diesem Instrument denn klingen würde, und irgendwann stand ich rein zufällig vor einem und habe einfach in die Tasten gegriffen.

Was war ihr erster Eindruck?

Der erste Eindruck war: Oh Gott, hier muss man ja alles anders machen! Auf den ersten Blick schaut so ein Harmonium ja aus wie ein kleines Klavierchen. Aber es ist natürlich ein völlig eigenständiges Instrument mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die man erst rauskriegen muss. Am Anfang war ich fürchterlich überfordert, aber dann hat mich der Ehrgeiz gepackt.

Und dann?

Ja, dann habe ich nicht nur eins gekauft, sondern mittlerweile glaube ich schon über zehn. Einige Instrumente habe ich in gut klingende Locations über Bayern verteilt, zwischenzeitlich aber wieder abgespeckt. Momentan habe ich noch vier Harmoniums. Es ist ein großer Glücksfall, überhaupt ein gutes zu kriegen. Man wartet zum Teil viele Jahre, weil der Markt an hochwertigen Instrumenten ziemlich dünn ist. Und man kauft in der Regel die Katze im Sack, sprich: das Harmonium in einem restaurierungsbedürftigen Zustand. Und dann hofft man, dass es, nachdem es hergerichtet ist, so gut klingt, dass man es konzertant oder für Aufnahmen verwenden kann.


Das Harmonium ist ja streng genommen ein Blasinstrument, und der Ton wird ähnlich erzeugt wie bei einer Mundharmonika. Für den Wind muss man mithilfe von zwei Pedalen selbst sorgen, richtig?

Ja, und das ist für Harmonisten auch die größte Herausforderung. Wenn man mit dem einen Pedal zum Ende gekommen ist, muss man sich mit dem anderen Pedal quasi obendrauf setzen, sodass es einen gleichmäßigen, permanenten Luftstrom gibt. Bis man das sauber hinkriegt, dauert es einige Monate. Spannend beim Harmonium ist auch, dass man die Dynamik sehr variabel steuern kann. Ich kann zum Beispiel einen Akkord anschlagen und ihn unverändert vor mich hin klingen lassen. Und wenn ich möchte, kann ich ihn mit dem richtigen Hebel und dem richtigen Winddruck anschwellen lassen und auch wieder zurücknehmen. Interessanterweise geht das mit den beiden Instrumentenhälften unabhängig voneinander, sprich Bass und Diskant. Wir Harmonisten sprechen hier von der „Teilung“. Die führt zu verblüffenden Effekten. Grundsätzlich gibt es bei diesem Instrument zwei völlig unterschiedliche Systeme, nämlich Saugwind- und Druckwind-Harmoniums.


Von Aufnahmen her kennt man Sie als Pianisten, der die virtuosesten Werke beherrscht. Sie haben Rachmaninoff, Chopin, Mussorgsky oder Janáček eingespielt. Vermissen Sie beim Harmonium das Virtuose?


Das Virtuose ist hier nur gut versteckt: Zu den Herausforderungen zählen zum Beispiel ein gut dosierter Wind, eine äußerst diffizile Kniehebelbedienung, das schnelle Registerziehen und ein extrem gutes Legato. Das muss man sich erst antrainieren. Als Pianist glaubt man, man könne tatsächlich legato spielen. Aber gehen Sie ans Harmonium und Sie werden feststellen: Sie können es nicht! Wenn man einem guten Harmoniumspieler zuschaut, wirkt alles ganz easy, ungefähr so wie bei einem Piloten im Cockpit. Die Virtuosität besteht auch darin, viele Sachen gleichzeitig zu machen. Wenn Harmoniumspiel runtergeht wie Öl, dann macht der Instrumental-Solist einen guten Job.


Welche Literatur gibt es für das Harmonium?

Mich haben schon immer die Romantik und die Entwicklungen in der Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts angezogen. Die Blütezeit des Harmoniums fällt in diese Zeit, und aus dieser Epoche gibt es hervorragende Werke für das Instrument. Von Franz Liszt zum Beispiel habe ich als erster auf fünf Alben das Gesamtwerk für Harmonium eingespielt. Die allermeisten Stücke für das Instrument hat aber Sigfrid Karg-Elert geschrieben, das sind mit Bearbeitungen weit über 500. Der war wirklich innovativ und hat das Harmonium bis ins Letzte ausgekostet.

Und auch Max Reger hat für Harmonium komponiert.

Ja, aber wenn man es streng nimmt, nur zwei originale Kompositionen: Die berühmte Romanze, die auch andere Komponisten für diverse Besetzungen bearbeitet haben, und eine kleine Fughette, die glaube ich erst in den 1990er-Jahren wiederentdeckt wurde. Aber dann gibt es noch einige Bearbeitungen, von denen viele interessanterweise in Kooperation mit seinem Vater entstanden sind.

Mit Josef Reger?

Ja, der hat Max inspiriert oder überredet, seine Werke, die ja eigentlich immer einen Kirchenraum brauchten, für einen kleineren Rahmen einzurichten. So sind Bearbeitungen von seiner zweiten Orgelsonate, aber auch von einigen seiner Lieder entstanden. Und schließlich gab es den Komponisten Karl Kämpf, der Choräle von Reger fürs Harmonium eingerichtet hat, die Reger dann später autorisiert hat. Und wenn man die Werke alle versammelt, kommen wunderbar zwei Alben zusammen, und die habe ich jetzt im Jubiläumsjahr eingespielt.

Wie komponiert Reger fürs Harmonium?


Wie sonst auch: Komplex, vielstimmig, dicht. Bei Reger muss man immer mit allem rechnen. Er macht ja zum Teil harmonische Wendungen, die, sage ich mal, haarsträubend sind. Man sitzt zu Beginn an einem Stück dran und denkt: Nein, also das kann er jetzt nicht machen! Aber man muss sich dann ein Konzept überlegen und in den Komponisten reinspüren. Und dann, auf wundersame Weise, funktioniert es. Ein Reger-Werk bleibt aber immer abenteuerlich, auch auf dem Harmonium.

Max Reger hatte auch ein Harmonium, das seit einiger Zeit im Max-Reger-Institut in Durlach steht (siehe Bild und Mitteilungen Nr. 24 (2013), S. 3–5).1 Sie haben es selbst spielen können. Was ist das für ein Instrument?


Das ist ein sehr schönes Saugwind-Harmonium, das einen ganz distinguierten Klang hat, sehr transparent ist, eine große dynamische Wandlungsfähigkeit besitzt. Es ist kein Instrument mit sehr vielen Registern, aber die Register, die verbaut sind, klingen sehr edel. Zum Beispiel für die Liedbearbeitungen ist das geradezu prädestiniert, auch für diverse andere Bearbeitungen, die Reger zum Beispiel von Chopin oder von Wagner geschrieben hat. Ich bin ja nicht nur in den Genuss gekommen, dieses Instrument im Max-Reger-Institut konzertant einweihen zu dürfen, sondern habe erfreulicherweise auch noch den Zuschlag bekommen, das Instrument für meine Reger-Harmonium-Gesamtaufnahme hernehmen zu dürfen. Das war mir eine große Freude.


Sie haben eben schon erzählt, dass alte Harmoniums meistens restauriert werden müssen. Wie stark wurde Regers Harmonium überarbeitet?


Im konkreten Fall weiß ich es nicht. Aber das dürfte so wie bei fast allen alten Harmoniums gewesen sein: Die Bälge, also die „Lunge“ des Instruments, sind meistens so porös, dass man nichts mehr damit anfangen kann. Dann sind die Motten oder die Würmer fleißig am Fressen und Nagen. Schließlich reißen die Gurte von den Schöpfpedalen oder die Filze sind völlig durchlöchert. Erfahrungsgemäß muss man solche Instrumente einmal komplett zerlegen und versucht dann, soviel Substanz zu erhalten wie möglich. Das machen meistens Orgelbauer, die sich darauf spezialisiert haben. Es gibt aber bundesweit nur ganz wenige, die das richtig gut draufhaben. Das Instrument im Max-Reger-Institut ist jetzt in einem sensationellen Zustand. Man kann alles so perfekt darauf spielen wie damals, also wie fabrikneu. Großes Kompliment an den Orgel- und Harmoniumbauer!

Muss man ein Harmonium eigentlich stimmen?


In der Regel nicht. Das Tolle ist, dass es durchschlagende Metallzungen hat, und die stimmen Sie einmal, und dann verstimmen sie sich nicht mehr. Deswegen war das Harmonium ja auch vor hundert Jahren so beliebt: Relativ geringe Anschaffungskosten, und Sie mussten nicht jedes Jahr einen Klavierstimmer kommen lassen.

Wie sind Sie eigentlich mit Regers Musik in Kontakt gekommen? Sie stammen ja ursprünglich aus Weiden, hat das eine Rolle gespielt?


In Weiden kommt man an Reger natürlich nicht vorbei. Und dann bin ich ja auch noch ein 73er-Jahrgang (lacht).

Ach so, dann sind Sie genau hundert Jahre jünger als Reger!


Richtig. Ich habe früh mit Reger angefangen auf dem Klavier, und da war natürlich als Teenager die große Herausforderung, sich überhaupt mal einen Fingersatz zurechtzulegen, dass das spielbar ist. Und dann beginnt der Reifungsprozess. Ich habe mit den „Träumen am Kamin“ angefangen, dann ging es weiter mit „Aus meinem Tagebuche“, das ja auch eine wunderbare Spielwiese ist. Als ich älter war, kamen die Bach-Variationen, da geht es natürlich richtig ans Eingemachte.


Was sind Ihre nächsten Projekte in puncto Tonaufnahmen?


Na ja, ich bin seit 2020 mit sieben Alben ja schon gut dabei. Jetzt würde ich gerne mehr Konzerte spielen und erst mal nicht so viele Tage im Tonstudio verbringen. Es gibt aber schon ein Klavierprojekt mit Melodramen, mit der Rezitatorin Susanne Sperrhake. Und es wird auch ein Celesta-Album geben, mit mehreren Komponisten, die gerade Werke für mich komponieren.


Zum Beispiel?

Der japanische Komponist Kazue Isida hat mir kürzlich ein riesenhaftes Werk für Celesta gewidmet, auf über 1300 Seiten. Es entstand in der „stillen Zeit“ während der Pandemie. Er ist viel in der Natur gewesen und hat sich von Pflanzen inspirieren lassen. Das Werk heißt „Florum“ und Isida bildet darin 360 Pflanzen musikalisch ab. Das sind meist zwei- bis achtseitige Konzertstücke, alle tonal, also im – wie er selbst sagt – „organischen Stil“ geschrieben. Ob ich alle 1300 Seiten schaffe, weiß ich noch nicht. Aber ich will es versuchen.


Das Interview führte Moritz Chelius. Es ist die gekürzte und angepasste Fassung eines Podcasts, den Sie demnächst auf den Seiten des Max-Reger-Portals anhören können. Dort spielt Lars David Kellner unter anderem Werke von Max Reger für Harmonium.